Pädagogische Leitlinien für rassismuskritische Arbeit mit Jugendlichen

1. Wozu diese Einleitung?

In dieser Einleitung werden Voraussetzungen benannt, die Teamende unserer Erfahrungen nach mitbringen sollten, wenn sie diese Methoden zu antimuslimischem Rassismus (AMR)i durchführen wollen. Wir bitten alle potenziell Durchführenden, die kommenden Hinweise komplett durchzulesen. Sie sind als Reflexionsangebote gedacht – aber auch als „Achtungsschilder“, anhand derer Sie überprüfen können, welche der Methoden Sie sich zutrauen.

Eine zentrale Empfehlung ist, die Methoden zuerst aus der Perspektive einer oder eines Teilnehmenden (TN) zu erleben. Die Schilderung unserer Erfahrungen als Entwickler*innen der Methoden und als Pädagog*innen, die damit gearbeitet haben, kann die eigene Erfahrung damit nicht ersetzen. Auch werden unsere Erläuterungen dadurch insgesamt nachvollziehbarer.

Rassismus, im Besonderen AMR, ist ein gesellschaftlich herausforderndes und polarisierendes Thema, auch in der politischen Bildungsarbeit. Unserer Ansicht nach bedarf es auf Seiten der Teamer*innen einer vorangehenden Auseinandersetzung mit AMR und eines reflektierten Umgangs mit Methoden und Materialien. Die unseres Erachtens notwendigen Voraussetzungen erläutern wir im Folgenden. Konkrete Hinweise dazu finden sich auch unter der Überschrift „Zu beachten: Voraussetzungen für die Durchführung“ in jeder der Methodenbeschreibungen.

Sollten beim Lesen bei bestimmten Methoden Zweifel aufkommen, halten wir es für eine gute Entscheidung, eine Methode (noch) nicht durchzuführen. In diesem Fall empfehlen wir, zunächst selbst Fortbildungen zu besuchen und/oder sich eigenhändig fortzubilden. Dazu können die von uns zusammengestellten Hintergrundinformationen (inkl. Glossar) und Literaturhinweise genutzt werden. Alternativ können Sie, wenn Sie weiterhin unsicher sind, mit dem Thema erfahrene Referent*innen einladen.

Im folgenden Abschnitt möchten wir – als Entwickler*innen und Autor*innen der Methodensammlung – über unser Selbstverständnis, unsere eigenen (fortdauernden) Lernprozesse und über die Ziele reden, die wir mit der Methodensammlung verfolgen.

2. Unser Selbstverständnis und die Konzeption der Methoden

Unser Entwicklungs- und Autor*innen-Team besteht aus Kolleg*innen mit langjähriger Erfahrung in der rassismuskritischen und diversitätssensiblen Bildungsarbeit. Wir haben dabei verschiedene persönliche und professionelle Zugänge sowie unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte.

Diese Multiperspektivität in unserer Teamzusammensetzung ist uns besonders wichtig, d.h., zu unserer Gruppe gehören sowohl Menschen, die tagtäglich Erfahrungen mit Rassismus und/oder antimuslimischen Rassismus machen, als auch weiße Menschen. Wir messen dem Bewusstsein über die jeweilige eigene Positionierung und über die Verstrickung in gesellschaftliche Machtverhältnisse für unsere Arbeit große Bedeutung zu. Das betrifft auch die Entwicklung und Durchführung von Methoden zu AMR. Stetige Selbstreflexion sowie die Reflexion und Auseinandersetzung innerhalb unseres Teams gehören unweigerlich dazu.

Bei der Konzeption und Zusammenstellung dieser Methodensammlung haben wir in Kleingruppen, nicht als Gesamtteam gearbeitet. Zum Teil wandelten wir bereits erprobte Übungen und Materialien ab und schnitten sie auf das Thema AMR zu. Zudem haben wir neue Zugänge und Vorgehensweisen entwickelt. Die jeweiligen Methodenideen und -entwürfe wurden vor dem Einsatz im Gesamtteam vorgestellt, kritisch überprüft und durch das Feedback der Kolleg*innen angereichert. Die anschließende Erprobung mit Jugendlichen und Multiplikator*innen werteten wir jeweils im Gesamtteam aus und nahmen im Anschluss inhaltliche wie methodische Änderungen vor. So gab es bei allen Methoden mehrfache Erprobungs-, Reflexions- und Überarbeitungsschleifen, die von intensiven Diskussionen begleitet waren. Selbst in der redaktionellen Arbeit reißen die kritischen Auseinandersetzungen mit unseren Grenzen und Möglichkeiten nicht ab.

3. Unsere Ziele

Angesichts der Komplexität des Phänomens AMR ist naheliegend, dass die Auseinandersetzung damit längere Zeit in Anspruch nimmt und prozessorientiert gestaltet sein muss. Dabei sollen die vorliegenden Materialien unterstützen. Wir möchten mit ihnen Entwicklungsräume schaffen und Impulse setzen, um dominante Sichtweisen zu hinterfragen. Wir wollen ermöglichen, alternative Bilder und Vorstellungen zu entwickeln, indem sich die TN mit Sichtweisen auseinandersetzen, die sonst in der Gesellschaft wenig präsent sind. Dabei kommt es darauf an, von Kindheit an Gelerntes und als Norm Verinnerlichtes zu reflektieren und zu erkennen, wie antimuslimischer Rassismus und andere Ungleichheitsideologien unser Wissen dominieren.

In den Methoden geht es weder darum, „den Islam“ zu erklären, noch um Rezepte für den Umgang mit AMR. Unser Fokus liegt auf einem machtkritischen Beitrag: AMR auf der persönlichen, auf der institutionellen und auf der gesellschaftlichen Ebene sichtbar zu machen. Dabei geht es uns selbstredend auch immer darum, Menschen zu stärken, neue Umgangsweisen mit AMR zu entwickeln und zu erproben – sowohl aus rassismuserfahrenerii als auch aus privilegierter Positionierung.

Bezugsrahmen für unsere Bildungsarbeit sind die Grund- und Menschenrechte, und zwar für alle Menschen überall. Diese werden nicht nur außerhalb Europas regelmäßig missachtet. Auch in Deutschland prägen Ideologien der Ungleichwertigkeit die Gesellschaft – Bildungsarbeit kann ein Baustein sein, um dem entgegenzuwirken. Wir gehen davon aus, dass pädagogische Arbeit politische Bewegungen nicht ersetzen kann, zielen jedoch ausdrücklich auf einen Abbau von Rassismus. Diese Arbeit schließt eine klare politische Positionierung ein zu Gunsten gleicher Rechte aller Menschen und für den Abbau von Machtasymmetrien und Diskriminierungen auf allen Ebenen.

In der Methodensammlung versuchen wir, Verschiedenes zu ermöglichen bzw. anzubieten: die Sensibilisierung von privilegierten TN ebenso wie die Sicht- und Hörbarmachung marginalisierter Erfahrungen sowie Räume für das Empowerment von Menschen mit Rassismuserfahrung.

In den Workshops kann ein Raum eröffnet werden, in dem Menschen miteinander reden können, ohne sich – wie oft im Alltag – rechtfertigen zu müssen. Unser Ziel ist ein gegenseitiger Austausch, der stärkt und auf dessen Grundlage gegenseitiges Verständnis ebenso entstehen kann wie Bündnisse.iii

Empowerment geht mit Power-Sharing einher. Unter Power-Sharing verstehen wir, dass privilegierte Menschen ihre Möglichkeiten nutzen, Räume für marginalisierte Gruppen zu schaffen, Ressourcen umzuverteilen, den Zugang zu Macht und Entscheidungen erleichtern – kurz: Machtverhältnisse in den eigenen Kontexten zu verändern. Die Bewusstwerdung eigener Privilegien und Ressourcen ist eine Voraussetzung von Power-Sharing. Das Kriterium ist: Wer hat letzten Endes die Kontrolle über Ressourcen und Entscheidungsmacht und über ihren Einsatz? Wird das Gegenüber wirklich als Subjekt mit eigener Handlungsmacht anerkannt?iv

Mit dieser Methodensammlung möchten wir Kolleg*innen aus dem Bildungskontext unsere Erfahrungen zur Verfügung stellen. Unser Fokus ist dabei eine machtkritische Professionalisierung.

4. Gesellschaftlicher Kontext unserer Arbeit

a) Othering

Diese Bildungsarbeit ist sehr herausfordernd, weil es bei AMR (wie bei allen Formen von Diskriminierung) nicht allein um diskriminierende Verhaltensweisen von Einzelnen geht, sondern um gesellschaftlich verankerte Überzeugungen und seit Kindheitstagen verinnerlichte Einstellungen. In den Blick genommen werden die Grundlagen dessen, was als „europäische Identität“ gilt.

Ein zentraler Bestandteil dieses Selbstverständnisses ist die Annahme eines zivilisierten und aufgeklärten Westeuropas, das als Hort der Menschenrechte gesehen wird. Im Gegensatz dazu seien „andere“ rückständig. Im Zuge dessen wird so getan, als hätten „wir“ selbst „unsere Werte“ längst verinnerlicht und umgesetzt – zumindest mehr als „andere“. Diese Annahme hat immense Überzeugungskraft und bedarf zugleich massiver Verdrängung, sowohl historischer als auch gegenwärtiger menschenverachtender europäischer Politik- und Wirtschaftspraktiken mit ihren globalen Folgen. „Westliche Werte“ stehen auch für die Gewalt an den Außengrenzen Europas und die gewalttätige postkoloniale Weltwirtschaft. Als eine der Aufgaben unserer Bildungsarbeit sehen wir deshalb an, den Diskurs über „unsere Werte“ zu dekolonialisieren.v

Edward Said benennt und dekonstruiert in seinem Buch Orientalism die Mechanismen des antimuslimischen Rassismus und analysiert dabei den „Orientalismus“ als eine hegemoniale Form der intellektuellen Macht. Dieser Diskurs beinhaltet das, was seit dem 18. Jahrhundert über den Orient im Westen und später in den USA geäußert, gedacht und geschrieben wurde. Nach Said übte der Orient-Diskurs Macht und Herrschaft aus: Mit dem in diesem Diskurs produzierten Wissen legitimierte und stabilisierte Europa seine Herrschaft über den Orient. Said griff in diesem Zusammenhang den Begriff „Othering“ auf und entwickelte ihn wissenschaftlich weiter.

Othering beschreibt den Prozess, mit dem ein Mensch oder eine Gruppe zum oder zur „anderen“ gemacht wird, um die eigene Normalität zu bestätigen. Was als Standard und normal durchgesetzt werden kann, ist von gesellschaftlichen Machtverhältnissen abhängig. Im Othering-Prozess wertet die dominante Gruppe ihr Selbstbild auf, indem eine andere Gruppe als „anders“ und/oder „fremd“ klassifiziert und abgewertet wird. Die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak greift den Begriff auf und arbeitet ihn systematisch aus. Sie verwendet Othering für „das im Machtdiskurs ausgeschlossene Andere“vi.

Obwohl Behauptungen über die „anderen“ Konstruktionen sind, sind diese wirkmächtig. Nach Stuart Hall besteht die Herausforderung, vor der wir stehen, darin, „die Bedingungen der Diskussion zu verändern, die Annahmen und Ausgangspunkte in Frage zu stellen, die Logik zu brechen – das ist eine […] langwierigere und schwierigere Aufgabe. […] [Sie] setzt voraus, dass das sichtbar gemacht wird, was gewöhnlich unsichtbar bleibt: die Annahmen, auf denen die jetzigen Praxen beruhen.“vii

b) Rassismuskritische Bildungsarbeit an Schulen

Der Großteil politscher Bildungsarbeit findet an Schulen und mit jungen Menschen statt. Die Erfahrungen mit dem Projekt zu AMR verstärkten unsere Überzeugung, dass die Pädagog*innen einer jeden Einrichtung sich mit Rassismus und weiteren Ungleichheitsideologien beschäftigen sollten. Sie arbeiten in einem System, in dem die Kultivierung von rassistischen Wissensbeständen, diskriminierenden Strukturen und damit verbundenen Umgangsweisen augenblicklich der Normalfall sind. In den Worten Karim Fereidoonis, der als Juniorprofessor für Didaktik an der Ruhr-Universität Bochum auch für die Ausbildung von Lehrkräften zuständig ist: „Ich bin der Meinung, dass Rassismus in jeder Schule, in jeder Bildungsinstitution ein Problem darstellt, wobei ich gar nicht von einem Problem reden würde, sondern von einem Strukturierungsmerkmal. Rassismus strukturiert unser gesellschaftliches Wissen, unser gesellschaftliches Handeln, also dass Rassismus auch in der Schule eine Rolle spielt, sowohl bei Lehrkräften als auch bei Schüler*innen und auch bei Schulmaterial wie Schulbüchern und so weiter.“viii

Hilfreiches Hintergrundwissen zu (antimuslimischem) Rassismus in Schulbüchern findet sich in den Studien des Georg-Eckert-Institutsix und in der Schulbuchstudie „Migration und Integration“x.

5. Voraussetzungen der Durchführung: Hinweise zur Nutzung der Methoden

Zusätzlich zu konkreten Hinweisen unter der Überschrift „Zu beachten: Voraussetzungen für die Durchführung“ in jeder einzelnen Methodenbeschreibung haben wir in einer ausführlichen Einleitung zu unserer Methodensammlung die allgemeinen Voraussetzungen benannt, die Teamende unserer Erfahrungen nach mitbringen sollten, wenn sie diese Methoden zu antimuslimischem Rassismus (AMR) durchführen wollen. Wir bitten alle potenziell Durchführenden, diese Hinweise komplett durchzulesen. Sie sind als Reflexionsangebote gedacht – aber auch als „Achtungsschilder“, anhand derer Sie überprüfen können, welche der Methoden Sie sich zutrauen.

Fußnoten

i Im Glossar finden Sie eine Erläuterung unseres Verständnisses von antimuslimischem Rassismus.

ii Vgl. auch dazu den Eintrag im Glossar.

iii Nach Žaklina Mamutovič: „Empowerment ist ein politischer Begriff“, antifra* – Debatte, Bildung, Vernetzung zu Migration und gegen Rassismus und Neonazismus, vom 14.1.2015. Abrufbar unter http://antifra.blog.rosalux.de/empowerment-ist-ein-politischer-begriff-2/ (12/2018).

iv Nach Gabi Elverich, Annita Kalpaka, Karin Reindlmeier (Hrsg.): Spurensicherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft. Münster: Unrast 2009

vNach Annette Kübler: „Zwischen color-line und Handlungsmöglichkeiten – für Kinder, Eltern und Pädagog_innen“. In: anti-bias-netz (Hrsg.): Vorurteilsbewusste Veränderung mit dem Anti-Bias-Ansatz. Freiburg: Lambertus 2016

vi Gayatari C. Spivak: „The Rani of Simur“. In: Francis Barker et al. (Hrsg.): Europe and its Others. Vol. 1. Colchester: University Press 1985

vii Stuart Hall: Die Konstruktion von Rasse in den Medien“. In: Ausgewählte Schriften, Hamburg: Argument 1989

viii Karim Fereidooni im Gespräch mit Benedikt Schulz Rassismus strukturiert unser gesellschaftliches Wissen, Deutschlandfunk vom 31.7.2018. Abrufbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/kritik-an-lehrkraefteaus-und-weiterbildung-rassismus.680.de.html?dram:article_id=424308 (12/2018).

ix Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung (Hrsg.): Keine Chance auf Zugehörigkeit? Schulbücher europäischer Länder halten Islam und modernes Europa getrennt. Braunschweig 2011. Abrufbar unter: http://repository.gei.de/bitstream/handle/11428/172/Islamstudie_2011.pdf?sequence=1&isAllowed=y (12/2018).

x Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung (Hrsg.): Schulbuchstudie Integration und Migration, Berlin 2015. Abrufbar unter: http://repository.gei.de/bitstream/handle/11428/65/820991228_2015_A.pdf?sequence=2&isAllowed=y (12/2018).