Rassismuskritischer Ansatz
Das Konzept Rassismuskritik beinhaltet macht- und selbstreflexive Betrachtungsperspektiven auf Handlungen, Institutionen, Diskurse und Strukturen. Wir gehen davon aus, dass es in Gesellschaften, die jahrhundertelang von angewandten und in Erzählungen weitergeführten Rassismen beeinflusst sind, nicht möglich ist, durch singuläre Praxen, gewissermaßen „auf einen Streich“, diese zu einer rassismusfreien Gesellschaft zu machen. (Mecheril/Melter 2009, S.14).
Mit dem rassismuskritischen Ansatz liegt den Materialien eine Methodik zugrunde, die Rassismus in seiner Gesamtheit erfasst und bewusst unterschiedliche Ausprägungsformen und -dimensionen einschließt. Dementsprechend wird Rassismus nicht nur als bloßes Einstellungssyndrom betrachtet, sondern thematisiert ebenso in einem umfassenden Blick rassistische Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen. So liegt das Hauptaugenmerk dieses Ansatzes nicht in der Sichtbarmachung oder dem Aufzeigen des „Rassismus der Anderen“, sondern umfasst in erster Linie die Schaffung eines Bewusstseins und Verständnisses für institutionelle Verhältnisse und gesellschaftliche Bedingungen, denen rassistische Strukturen systematisch eingeschrieben sind. Erst durch eine gezielte Reflexion der eigenen Eingebundenheit in diese Strukturen kann ein reflektierter, präventiver und nachhaltiger Umgang mit Rassismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungs- und Erscheinungsformen erfolgen (vgl. Mecheril/Melter 2009, S.14).
Aufgrund der tiefen gesellschaftlichen Verankerung von Rassismen (vgl. ebd.) ist nur von einer begrenzten Wirkmächtigkeit pädagogischer Interventionen bezüglich rassistischer Handlungen oder Äußerungen auszugehen. Ursächlich hierfür ist, dass Rassismus nicht auf ein verzerrtes Bewusstsein oder Bildungsdefizite einer einzelnen Person zurückzuführen, sondern Resultat gesellschaftlicher Bedingungen ist (vgl. Kalpaka/Räthzel 1999). Folglich muss von Seiten des pädagogischen Fachpersonals eine Auseinandersetzung mit den eigenen Handlungsprämissen stattfinden, sodass diese und deren Konsequenzen in der Praxis hinterfragt werden. Beispielsweise ist es nicht zielführend, wenn eine pädagogische Einrichtung, die annimmt, dass die Migrationsgesellschaft durch sogenannte kulturelle Differenzen und ‚falsche‘ individuelle Einstellungen geprägt ist, dagegen mit Angeboten zur interkulturellen Begegnung oder mehr Toleranz vorgehen will. Wird Rassismus allerdings als Problem der Institutionen und der Strukturierung der Gesellschaft aufgefasst, so kann die Folge ein ganzheitliches Agieren und Thematisieren von strukturellen und individuellen Rassismen und ein perspektivisches Ineinandergreifen beider Ebenen sein. Zentrales Element bleibt eine differenzierte Problemanalyse und Auseinandersetzung unter Einbeziehung der eigenen Position (vgl. Broden 2008, S. 32).
Gleichwohl muss angemerkt werden, dass die in der rassismuskritischen Perspektive formulierte, berechtigte Kritik an den sozialpsychologischen Ansätzen, die Rassismus auf ein individuelles Phänomen reduzieren, der letztlich auf psychische Impulse zurückzuführen sei, schließlich dazu geführt hat, dass die sozialpsychologische Dimension des Phänomens gänzlich aus dem Blickwinkel geraten ist. Rassismus wäre aber erst dann als eine gesellschaftskritische Analysekategorie zu bestimmen, wenn man sich auch auf den subjektiven Faktor einlässt und die Dimension des Unbewussten mitberücksichtigt und nach den sozialpsychologischen Voraussetzungen des Rassismus fragt. Anders gesagt: Es ist zwar die Gesellschaft, die aus sich heraus den rassistischen Hass auf „Andere“ produziert. Aber es ist der/die Rassist*in, der/die hasst. Und beides gehört zusammen und beides gehört verstanden. Der rassismuskritische Ansatz, der die Macht der Affekte und die Dimension des Unbewussten berücksichtigt, wäre der Ansatz, der danach fragt, wie individuelle und kollektive Strukturen sich in einem gesellschaftlichen Prozess verschränken und wie subjektive Strukturen aus objektiven gesellschaftlichen Prozessen hervorgehen. Aus einer solchen Perspektive wäre eine Reflexion über die Verschränkung von subjektiver und gesellschaftlicher Struktur in der politischen Bildungsarbeit notwendig, um Reproduktionslogiken von rassistischen Differenzsetzungen zu durchbrechen (vgl. Özdoğan et al. 2017, S. 209f.).
Nicht zuletzt verfolgen viele Bildungsprogramme das Ziel der Einstellungsänderung oder Vorurteilssensibilisierung, worin abermals die Notwendigkeit eines Zusammendenkens von Struktur und persönlicher Haltung deutlich wird (vgl. Kalpaka 2003). Die politische Bildungsarbeit, der ein solches Verständnis der rassismuskritischen Perspektive zugrunde liegt, muss daher ebenso die gesellschaftliche Funktion von Schule (Selektion, Allokation, Sozialisation, etc.) reflektierend mitberücksichtigen, um einen – wie Adorno es nennt – wirksamen Beitrag zu einer „Erziehung zur Mündigkeit“ zu leisten (vgl. Adorno 1971).
Neben dem Begriff der Rassismuskritik wird oftmals der des Antirassismus verwendet. Allerdings lässt sich in der begrifflichen Ausgestaltung des Antirassismus die theoretische Darlegung mit dessen Praxis nicht in Einklang bringen. Ursächlich hierfür ist, dass die rassismuskritische Perspektive demgegenüber nicht impliziert, dass es eine rassismusfreie Theoriebildung und Praxis gibt. „Bereits die gedankliche, diskursive Auseinandersetzung um Differenz, um Andere etc. erzeugt wiederum Differenzen und die Anderen“ und so verhindert eine rassismuskritische Perspektive den Moralismus des Antirassismus und führt zu einer offenen Auseinandersetzung mit rassistischen Realitäten. Daher ist eine selbstreflexive Herangehensweise, die das eigene Handeln und Tun überdenkt, für die Rassismuskritik essentiell (vgl. Broden 2008, S. 31).
Inhaltliche Leitlinien
In der inhaltlichen Ausgestaltung und Bearbeitung der Materialien in der Seminarsituation sind aus rassismuskritischer Perspektive bestimmte Prinzipien zu beachten und zu verwirklichen, damit die in Punkt 3 formulierten Grundlagen umgesetzt werden können.
Zentral für die inhaltliche Ausgestaltung der Materialien waren fünf Prinzipien, an denen sich eine reflektierte Arbeit mit Jugendlichen und Multipliktor*innen in Bezug auf Rassismus messen lassen muss, die somit auch für die inhaltliche Strukturierung der Übungen essentiell sind. Erstens soll Kultur als Prozess begriffen werden und sowohl die Vielfältigkeit als auch die Widersprüchlichkeit von ‚kulturellen Zugehörigkeiten‘ und identitätsstiftenden Zuschreibungen aufgegriffen werden, sodass zum einen die eigene Identität in ihrer Vielfältigkeit reflektiert und zum anderen ein Verständnis für gesellschaftliche Ausschließungsprozesse und Machtverhältnisse erlangt wird. Zweitens soll der Konstruktionscharakter von ‚Kultur‘ deutlich werden. Dass ‚Kultur‘ als eine ‚natürlich Gegebenheit‘ angesehen wird und damit scheinbar unveränderlich ist, hat Auswirkungen auf die Wirkmächtigkeit der in diesem Zusammenhang getätigten Kategorisierungen und Zuschreibungen. Daher ist es Aufgabe der rassismuskritischen Bildungsarbeit bereits die Einteilung in Kategorien zum Gegenstand des Diskurses zu machen und bewusst infrage zu stellen, inwiefern es sich hier um einen ‚natürlichen‘ Vorgang handelt. Da diese ‚natürlichen Kulturen‘ im Alltagsbewusstsein manifest sind, müssen hierzu konkrete Selbstverständlichkeiten des Alltags hinterfragt werden, um die zugrundeliegenden Konstruktionsprozesse greifbar zu machen. Drittens soll die gesellschaftliche Ebene miteingebunden werden und die Arbeit nicht auf eine individuelle Veränderungen von ‚falschen‘ persönlichen Einstellungen reduziert werden. Nur durch die Thematisierung von Rassismus in seinen unterschiedlichen gesellschaftlichen, rechtlichen und historischen Ausprägungsformen können die daraus entstehenden Ungleichheitsverhältnisse kritisch hinterfragt und angemessen begriffen werden. Viertens sollen die Materialien diverse Perspektiven aufweisen, folglich die Perspektive von Migrant*innen wahrnehmen und sie als handelnde Subjekte ernst nehmen, ohne sie zu ‚anderen‘ zu machen. Fünftens, „die Suche nach dem Eigeninteresse“ soll verdeutlichen, inwiefern die eigene Person in rassistische Verhältnisse und Situationen verstrickt ist und die eigene potentielle Betroffenheit durch Differenzkonstruktionen eine Rolle spielt (vgl. Elverich/Reindlmeier 2009, S. 32ff.).
In der Entwicklung der Materialien haben sich außerdem folgende Handlungsperspektiven auf vier ineinandergreifenden inhaltlichen Ebenen herauskristallisiert, die in unterschiedlicher Gewichtung in den einzelnen Bausteinen wiederzufinden sind.
Intersektionale Perspektive: (Antimuslimischer) Rassismus wird in seiner Verknüpfung mit anderen gesellschaftlich bedeutsamen Differenzsetzung begriffen.
Konstruktivistisches Verständnis: Es werden Perspektiven eröffnet, die es ermöglichen, den Konstruktions- und Funktionscharakter von (antimuslimischem) Rassismus zu erkennen und zu analysieren.
Phänomenologische Perspektive: Es werden die unterschiedlichen Erscheinungsformen von (antimuslimischen) Rassismus thematisiert.
Historisch-kontextuelle Perspektive: Es wird die historische und gegenwärtige Entwicklung und Bedeutung von (antimuslimischen) Rassismus berücksichtigt (vgl. Özdoğan et al. 2016b, S. 15).
Mit Implementierung aller vier Ebenen, ohne diese selektiv oder isoliert voneinander zu bearbeiten, soll die Komplexität der Wirkmächtigkeit von rassistischen Logiken reflexiv durchdrungen und ihr wirksam begegnet werden. Rassismus kann so auf allen Ebenen systematisch thematisiert und bearbeitet werden und das handelnde Einschreiten gegen Rassismus gestärkt und die ausgrenzende Wirkung rassistischer Verhältnisse vermindert werden (vgl. ebd.).
Leitlinien in der Durchführung der Übungen
In der praktischen Durchführung der Bildungsbausteine müssen neben der inhaltlichen Ausrichtung und Ausgestaltung auch die Rahmenbedingungen bzw. der Stil entsprechend der rassismuskritischen Perspektive verwirklicht werden. Grundlegend ist für die rassismuskritische Arbeit mit den vorliegenden Materialien, dass es hierbei nicht um eine theologische Wissensvermittlung über „den Islam“ und „die Muslime“ geht, sondern um Bildungsarbeit gegen antimuslimischen Rassismus. Das heißt, dass Rassismus als das Problem markiert wird und nicht ‚der Islam‘, da die Fokussierung, auch wenn sie möglicherweise differenziert geschieht, auf ‚den Islam‘ eine falsche Schwerpunktsetzung beinhaltet (vgl. Attia 2012, S. 3).
Zudem gilt: Wenn die Materialien in dem Bewusstsein durchgeführt werden, dass wir alle in rassistische Denk-, Handlungs- und Wirkungsweisen auf benachteiligende oder bevorrechtigende Weise verstrickt sind und Rassismus in seiner Gesamtheit betrachtet wird (vgl. Özdoğan et al. 2016b, S. 14), muss es eine Voraussetzung für die Durchführung der Übungen sein, dass Pädagogik von oben vermieden wird. Folglich soll die Seminarleitung nicht als Hort der Vernunft und Objektivität auftreten, da dies zu einem Hierarchiegefälle führt, das es verunmöglicht, einen offenen und ehrlichen Erfahrungsaustausch unter den Teilnehmer*innen der Übung zu praktizieren (vgl. Leiprecht 2003, S. 36). Hinzu kommt, dass dies nur gelingen kann, wenn ein partizipatorischer Ansatz in der Durchführung der Bausteine gewählt wird. Es soll Raum geboten werden, Methodik und Inhalte des Seminars mit den Seminarteilnehmer*innen gemeinsam und diskursiv zu erarbeiten und abzustimmen. Folglich muss den Teilnehmer*innen die Möglichkeit eingeräumt werden, eigene Erfahrungen, Thematiken und Perspektiven vorzutragen und einzubringen, sodass diese in einem wertschätzenden und zur Selbstkritik bereiten Diskurs thematisiert werden können (vgl. Mecheril 2009, S. 22ff.). Für die rassismuskritische Praxis bedeutet dies, dass sowohl über die eigene Religion gesprochen werden kann, aber ebenso Räume für eine sachliche Kritik an Religion zur Verfügung stehen müssen. Ebenso verhält es sich mit unterschiedlichen Vorstellungen von ‚Kultur‘ und der Sicherstellung der Möglichkeit über Rassismuserfahrungen zu sprechen (vgl. Broden 2008, S. 32).
Ergänzend lassen sich weitere ‚Stolpersteine‘ ausmachen, die in der rassismuskritischen Arbeit mit Jugendlichen, aber auch mit Erwachsenen auftreten können und Beachtung finden sollten:
‚Moralfalle‘: Anschließend an die Vermeidung der Pädagogik von oben schnappt diese Falle zu, sobald der moralische Zeigefinger erhoben wird und die Standpunkte der Teilnehmer*innen zugunsten eines Appells an die Solidarität vernachlässigt werden.
‚Delegationsfalle‘: Die eigene Involviertheit in rassistische Verhältnisse wird von weißen, deutschen Multiplikator*innen verneint und die eigene Mitverantwortung abgestritten oder abgewälzt.
‚Nützlichkeitsfalle‘: Die ökonomische Verwertbarkeit von Migrant*innen wird hierbei in den Vordergrund gestellt.
‚Opferfalle‘: Durch eine paternalistische Haltung findet die Perspektive von Migrant*innen keine Beachtung und drängt diese in eine passive Rolle als Betroffene und Opfer von Rassismus.
‚Rassismus-über-alles-Falle‘: Andere wirkmächtige Ausgrenzungsmechanismen wie z. B. Klasse, Geschlecht oder sexuelle Orientierung etc. werden ausgeblendet.
‚Gleichsetzungsfalle‘: Diese tritt auf, wenn Rassismus im Vergleich zu anderen Diskriminierungskategorien relativiert wird und dessen gesellschaftliche Wechselwirkung und Wirkmächtigkeit nicht berücksichtigt wird.
‚Exotisierungsfalle‘: Hierbei wird das Hauptaugenmerk auf das vermeintlich ‚Fremde‘ und die ‚kulturellen Differenzen‘ gelegt und bewegt sich ganz im Sinne der rassistischen Differenzkonstruktionen (vgl. Elverich/Reindlmeier 2009, S. 41f.).
Neben diesen ‚Stolpersteinen‘ muss bei der Durchführung unterschiedlicher Übungen auf verschiedene Schwerpunkte geachtet werden. Dazu ist in den Übungsbeschreibungen jeweils der Punkt ‚zu beachten‘ angeführt. Dieser liefert eine Hilfestellung in der Durchführung und gibt einen kurzen Überblick über Herausforderungen oder Problemstellungen, die sich im Laufe der jeweiligen Übung ergeben können.
Literatur:
Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Berlin 1971.
Broden, Anne: (Selbst-)Reflexivität als Kernkompetenz einer rassismuskritischen Pädagogik. In: Bundschuh, Stephan; Jagusch, Birgit; Mai, Hanna (Hrsg.): Holzwege, Umwege, Auswege. Perspektiven auf Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Düsseldorf 2008. S.31-35.
Kalpaka, Annita: Stolpersteine und Edelsteine in der interkulturellen und antirassistischen Bildungsarbeit. In: Stender, Wolfram; Rohde, Georg; Weber, Thomas (Hrsg.): Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit. Projekterfahrungen und theoretische Beiträge. Frankfurt am Main 2003. S.56-79.
Kalpaka, Annita; Räthzel, Nora: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Köln 1999.
Mecheril, Paul; Melter, Claus: Rassismustheorie und –forschung in Deutschland. Kontur eines wissenschaftlichen Feldes. In: Melter, Claus; Mecheril, Paul (Hrsg.): Rassismuskritik. Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach 2009. S.13-22.
Özdoğan, Mihri; Dannenbeck, Clemens; Moisl; Dominique; Hastreiter, Andreas; Bildungsteam Berlin-Brandenburg e.V.: Rassismuskritische Methoden und Materialien – Bildungsbausteine gegen Muslimfeindschaft. In: Gemeinsam leben. Zeitschrift für Inklusion: Flucht/Migration und Inklusion. 4/2017. Weinheim 2017. S.207-216.